Stadtrat

Rede zur Verabschiedung des H aushaltes für 2023 am 13. Dez. 2022 – Prof. Dr. Jürgen Straub, WiR – Wir in Reutlingen (es gilt das gesprochene Wort)

Link zur Originalrede – es gilt das gesprochene Wort!

Sehr verehrter Herr Oberbürgermeister Keck, verehrte Mitglieder der Verwaltung,
verehrte Ratskollegen, liebe Reutlinger.

Vor fast genau eineinhalb Jahren haben wir den letzten Doppel-HH 2021/2022 verabschiedet. Auf Grund strenger Auflagen des Regierungspräsidiums mussten Korrekturen vorgenommen werden und haben zu einem Reparaturhaushalt mit Haushaltssperre für 2022 geführt.

Ein Jahr – in dem wir nach wie vor mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu kämpfen haben.

Ein Jahr – in dem Krisenmanagement gefordert war und aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine weiterhin gefordert sein wird.Ein Jahr – in dem inflationäre Preissteigerungen, drohende Versorgungs-unsicherheiten und steigende Zinsen bereits erhebliche finanzielle Spuren in unserem Haushalt hinterlassen haben und in noch größerem Maße in den nächsten Jahren hinterlassen werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wir befinden uns in einer Zeit großer Unsicherheit, in der eine Krise der nächsten folgt und verlässliche Prognosen fasst unmöglich erscheinen.Die Stadt Reutlingen befindet sich – wie andere Kommunen auch – bedingt durch dieAuswirkungen der Corona-Pandemie in einer Art Dauerkrisenmodus. Zusätzlich herrscht seit dem 24. Februar 2022 Krieg in Europa.

Ein Jahr in dem sich die Welt dramatisch verändert hat. Wegbrechende Lieferketten, schwelende Pandemie, steigende Preise, steigende Zinsen und vor allem der Krieg in der Ukraine. Die Weltwirtschaft ist so fragil wie seit der Finanzkrise im Jahr 2008 nicht mehr.

Und Corona ist nach über zwei Jahren nicht vorbei. Für notwendige Gesundheitsschutzmaßnahmen müssen weiterhin Personal und Sachmittel eingesetzt werden.

Hinzu kommen ungeplante und zusätzliche Haushaltsbelastungen aufgrund des Ukraine-Kriegs, sowie die daraus und inflationsbedingt hohen Preisanstiege insbesondere bei Energie, Baukosten und Treibstoffen.

Rufen wir uns in Erinnerung. Die Verwaltung ging beim letzten Doppelhaushalt noch davon aus, dass bis zum Jahr 2022 die Steuereinnahmen auf ein Gesamtvolumen von 209 Mio. € wachsen werden. Nach der aktuellen Prognose über die Haushaltsentwicklung müssen wir in diesem Jahr mit einer Realität von 176 Mio.rechnen und für 2023 werden 181 Mio. prognostiziert.

Die Realität hat uns eingeholt und die früheren Prognosen wurden Makulatur!Seit Jahren warnt die WiR-Fraktion ausdrücklich davor, grundsätzliche Systemfehler in unserer gesamtstädtischen aber auch in unserer gesamtstaatlichen Mittelverteilung zu ignorieren.

Der Blick in das kommende Jahr ist deutlich ungewisser. Denn die Hoffnung, dass nach der Pandemie und den Lockdowns endlich wieder eine wirtschaftliche Erholung einsetzt, hat sich nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine und seitdem Putin russische Gaslieferungen als Kriegswaffe einsetzt, nicht bestätigt:

  • Wir erleben die größte Flüchtlingswelle innerhalb Europas seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) mussten bisher mehr als 12,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Zuhause hinter sich lassen, um der Gewalt und Zerstörung durch Putins Wahnvorstellungen und dem brutalen Angriffskrieg seiner Truppen zu entkommen. 7,9 Mio. konnten in der EU Schutz finden und über 1 Mio. haben wir in Deutschland aufgenommen.
  • Explosionsartig gestiegene Energiepreise und Inflationserwartungen von bis zu 10 Prozent belasten Wirtschaft und Verbraucher extrem.
  • Wegen der hohen Inflation hat die Europäische Zentralbank (EZB) am 21. Juli 2022 endlich die Zinswende eingeleitet und den Leitzins um zunächst 0,5 Prozent angehoben. Anfang September und Ende Oktober 2022 folgten zwei weitere, historischen Zinserhöhung um jeweils 0,75 Prozent so dass der Leitzins bereits auf 2,00 Prozent gestiegen ist. Mit weiteren Zinserhöhungen ist in den nächsten Wochen zu rechnen denn die EZB-Leitzins Prognose liegt für 2023 durchgängig bei 3,0 %.
  • Darüber hinaus werden Prognosen zur konjunkturellen Entwicklung in den letzten Wochen von führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten immer wieder nach unten korrigiert. Die Konjunktur kühlt sich kräftig ab und es besteht die berechtigte Sorge, dass es zu einer Rezession in Deutschland und Europa kommen wird.

Anders als früher führt der Konjunkturabsturz aber nicht zu niedrigen, sondern zu immer höheren Preisen. Das liegt sicherlich nicht nur, aber vor allen an den hohen Energiekosten. Viele Menschen stellen sich die Frage, ob sie Ihre nächste Nebenkostenabrechnung noch zahlen können. 

Ebenfalls die Kommunen leiden unter exorbitant steigenden Energiepreisen, mehr Geflüchtete aus aller Welt, die es aufzunehmen gilt, Inflation, verminderte Wirtschaftskraft – all das wirkt sich massiv auch auf kommunale Haushalte aus. Die prognostizierte Entwicklung der Kommunalhaushalte wird in den kommenden Jahren daher sicherlich zu einer dauerhaften, nicht gedeckten Unterfinanzierung der kommunalen Ebene führen.

Niemand kann verlässlich bis zum Ende des Winters und mit völliger Sicherheit abschätzen, wie sich die Gaspreise entwickeln werden. Dieses Risiko, das alle Städte und Gemeinden trifft, ist praktisch nicht zu beeinflussen. An einen gasmangelbedingten Produktionsstopp wollen wir bitte gar nicht denken. Eine massive Rezession würde uns drohen, die einen Rückgang der Steuereinnahmen in einem hohen Ausmaß zur Folge hätte.

Jedoch, welchen Wert haben die Zahlen, die von dieser hohen Unsicherheit geprägt sind überhaupt? Auch wenn die Zahlen – insbesondere die Steuererträge nominal wieder steigen, warne ich vor Illusionen. Denn sie steigen nach der Zahl, nicht nach ihrem Wert. So wird es uns nur schwer möglich sein, mit dem prozentual-nominalen Anstieg, die alles wegzehrende Inflation auszugleichen.

Die Gewinne unserer städtischen Töchter schrumpfen weiter und Gewinnausschüttungen an die Stadt sind zu Wunschträumen erstarrt. Verluste wird die Stadt wohl ausgleichen müssen.

Die heutige Meldung, dass die Stadtwerke Augsburg im laufenden Jahr mit einem Defizit im Nahverkehr von rund 48 Mio. Euro rechnen müssen muss uns zu denken geben.

Es braut sich also kein Sturm zusammen, nein wir sind schon mitten drin und der eingeschlagene Kurs unsere Finanzen zu konsolidieren wird in den nächsten Jahren auf eine sehr harte Probe gestellt werden.

Und meine sehr geehrten Damen und Herren, es werden zerstörte Existenzen, gigantische Schuldenberge, Risse in den Gesellschaften und nicht zuletzt Trauer und Ängste bleiben. Das müssen wir sensibel wahrnehmen und benennen, ohne dabei in Verschwörungstheorien, zu einfache Freund-Feind-Konstruktionen oder gar inSchuldzuweisungen abzudriften.

Aber gerade in dieser Zeit extremer Unsicherheit und dynamischer Entwicklung ist eine klare Haltung und verantwortungsvolles, abgewogenes und maßvolles Handeln notwendig.

Für uns als WiR-Fraktion hat daher für das Jahr 2023 aber auch für die folgenden Jahre oberste Priorität, dass

  1. unsere Finanzen nicht noch weiter aus den Fugen geraten darf
  2. unsere Steuerkraft durch Gewerbeentwicklung gestärkt wird
  3. die Hebesätze bei der Gewerbe- und Grundsteuer nicht weiter erhöht werden dürfen. Im Gegenteil, sie müssen wieder sinken damit wir unseren Wirtschaftsstandort schützen und die privaten Haushalte nicht zusätzlich belasten,denn in der Summe wird sich durch die neue Bemessungsgrundlage das Grundsteuer B Aufkommen bereits deutlich erhöhen.
  4.  die finanziellen Risiken trotz aller Unwägbarkeiten – soweit es uns möglich ist – beherrschbar bleiben
  5.  gezielte Investitionen in die Zukunft unserer Stadt, beispielsweise in die Digitalisierung, in den Klimaschutz und in unsere wichtigste Ressource, in unser Personal, an vorderster Stelle im sozialen Bereich weiterhin möglich sind. Eine weitere zentrale Aufgabe in den kommenden Jahren ist es, dem erheblichen Nachholbedarf bei der Substanz- und Werterhaltung des städtischen Vermögens, insbesondere in den Bereichen Schulen, Kitas und Verkehrsinfrastruktur Rechnung zu tragen.
    Dabei verwundert es uns sehr, dass die Verwaltung den Antrag „Investoren am Strassenunterhalt zu beteiligen“ erneut abgelehnt hat. Ortsfremde Investoren machen ihre Gewinne letztendlich auf Kosten der Bürgerschaft. Die Bundesanstalt für Strassenwesen hat berechnet, dass 1 einziger 4-Achs-40-Tonner LKW die Strasseninfrastruktur bei jeder Fahrt z.B. über eine Brücke so stark wie 112.000 VW-Golf belastet. Kein Wunder haben wir einen riesigen Sanierungsbedarf an unseren Strassen und Brücken. Davon ist ja nicht nur RT betroffen, aber andere Städte beschäftigen sich damit bereits … doch unsere Verwaltung sieht dafür erstaunlicherweise wohl keine Notwendigkeit.
  6.  Überprüfung der Verwaltungsstruktur insgesamt. Wir geben 28% der ordentlichen Aufwendungen für Personal aus. Andere Städte machen dies eindeutig effizienter. Konstanz z.B. mit 24% und Essen nur 17%
  7.  Wir müssen uns endlich vom Narrativ des „ewigen Wachstums“ verabschieden.

Also kein Wachstum um jeden Preis! In diesem Zusammenhang erinnere ich auch an den Antrag der WiR-Fraktion vom Juli diesen Jahres zur Darstellung des „Kosten-Nutzen-Index eines Bevölkerungswachstums.

Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, dass Reutlingen in seinem Gewerbesteueraufkommen je Einwohner 2018 mit 482 Euro/Einwohner bereits am aller untersten Ende seiner Vergleichsstädte liegt. Esslingen z.B. „erwirtschaftet“ deutlich mehr als das Doppelte pro Einwohner!

Trotzdem beschliesst dieses Gremium heute unter TOP 11 mehrheitlich ein weiteres Gewerbegebiet bzw. Industriegebiet faktisch zum Wohnen umzunutzen. Wer ausgewiesene Industrie- bzw. Gewerbegebiete zweckentfremdet, der kann auf lange Sicht auch nur geringe Gewerbesteuern einnehmen! Die erfolgte Erhöhung des Hebesatzes ist dabei auch nicht förderlich.

Eine offensive Gewerbeflächenentwicklung wurde durch die Vorgängerverwaltungsspitze mit ihrem Hauptaugenmerk auf Kunst und Kultur Jahre lang verschlafen und wurde erst jetzt von Ihnen Herr Oberbürgermeister wieder zum Leben erweckt. Doch wird es noch Jahre dauern bis daraus zusätzliche Gewerbesteuereinkünfte zu verzeichnen sind.

Unser grosser Dank an dieser Stelle gilt daher auch zuerst und vor allem denvielen, trotz aller Krisen Steuer zahlenden Arbeitnehmern, Unternehmen, Handwerksbetrieben und Selbstständigen.

Ob, in welchem Umfang und zu welchem Preis zukünftig öffentliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge daher noch angeboten werden können wird sich zeigen. Dazu müssen wir jetzt endlich in die Diskussion eintreten und vielleicht auch Entscheidungen treffen die für manchen unpopulär sein werden.

Meine Damen und Herren, führen Sie sich vor Augen, wir haben einen Sanierungsstau in unserer städtischen Infrastruktur (Strassen, Wege, Brücken, Schulen, Kitas etc.) von einer halben Milliarde Euro angesammelt und dieser sollte allein in 15 Jahren abgearbeitet werden.

Die Sanierung des Rathauses wird ebenso mit 100 Mio. Euro zu Buche schlagen. Weiterhin wird der Neubau des LRA und des Kreisklinikums die Stadt Reutlingen mit ca. 260 Mio. Euro belasten.

Und meine Damen und Herren Ratskollegen und Verwaltung, wir dürfen unsere Augen nicht davor verschliessen, nicht einmal unseren Anteil von einem hohenzweistelligen Millionenbetrag (ca. 70 Mio.) an der von vielen herbeigesehntenRealisierung der Stadt- bzw. Regionalbahn können wir bei dieser Finanzlage bezahlen!

Lassen Sie mich daher an dieser Stelle in aller Deutlichkeit festhalten: Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) hat für uns hohe Priorität, aber die Zukunft des Mobilitätsangebotes in unserer Stadt hängt im Wesentlichen davon ab, welche Weichenstellungen auf Bundes- und Landesebene im Bereich des ÖPNV getroffen werden. Allein zur Aufrechterhaltung der jetzt schon bestehenden Angebote ist eine nachhaltige Finanzierung der laufenden Betriebskosten durch Bund und Land erforderlich. Ein Festhalten an der bisherigen Förderpraxis mit dem Fokus auf investive Maßnahmen wird zwangsläufig dazu führen, dass es auch zu Angebotsreduzierungen kommen wird.

Insgesamt ergibt sich allein in den genannten Bereichen ein Finanzierungsbedarf von etwa 1000 Millionen Euro, also rund 65 Mio. pro Jahr auf 15 Jahre.

Die aktuellen und künftigen Baukostensteigerungen sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Alle reden davon, doch leider hat es weder die Verwaltung, noch dieses Gremium bislang wirklich vereinnahmt, dass wir uns für die nächsten Jahre endlich von Prestigeprojekten verabschieden müssen. „Nice to Have“ ist out!

Bestes Beispiel das sinnfreie Glashaus in der Oberamteistrasse. Wobei ich hier noch einmal betonen will, dass die WiR-Fraktion die historischen Häuser sehr wohl erhalten wollen.

Der Schuldenstand der Stadt Reutlingen wird sich seit 2017 mit 75 Mio. bis 2026 auf 152 Mio. mehr als verdoppeln. Trotzdem planen wir immer noch Luftschlösser deren Finanzierung sich noch nicht einmal am fernen Horizont abzeichnet.
Der Haushalt unserer Stadt steht damit erneut auch im Jahr 2023 sowie auch in der mittelfristigen Finanzplanung bis 2026 NICHT für eine zukunfts- und handlungsfähige Finanzpolitik und ist weder nachhaltig noch generationengerecht!

Ich appelliere daher an alle die Verantwortung für unsere Stadt tragen, finden wir endlich einen Weg zurück zu soliden Finanzen, denn nur so werden wir Reutlingen – regional und international – innovativ weiter entwickeln können, die Rahmenbedingungen für gesundes Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum ermöglichen und damit die Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit unserer Stadt sichern können.

Schliessen möchte ich wieder einmal mit einem Zitat von Albert Einstein:
„Es ist eine neue Art von Denken notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“

… und dies gilt nicht nur im übertragenen Sinn auch für unser Reutlingen!
Für Ihre Aufmerksamkeit herzlichen Dank.

Die WiR-Fraktion wird diesem vorgelegten Haushalt nur mit allergrössten Bedenken und Bauchschmerzen und ausschliesslich der Situation geschuldet noch zustimmen.